Kommentar/Berliner Zeitung: Es ist nicht die Brillanz des Radikalen

Nach der Europawahl ist der Schreck groß. Politische Beobachter und Gesellschaftskritik scheinen mit dem Triumph der Rechtsextremen nicht gerechnet zu haben. Im Osten Deutschlands stehen Antisemiten, Rassisten, Homophobe und Verfassungsfeinde an der Spitze. In keiner Altersgruppe ist die Alternative für Deutschland derart erfolgreich wie ausgerechnet bei den unter 30-Jährigen. Was für ein Omen.

Der Anständige reagiert mit Wut und Scham. Bekenntnisfolklore hat Konjunktur. Wie schon vor der Wahl. Wie schon seit Jahren. Wir sind die Brandmauer. Hauptsache, das Echo stimmt. Die Distanz zum blauen Wähler könnte größer nicht sein. Dumm oder böse muss er sein. Wie dunkel muss dieses Land noch werden, dass der Anständige das eigene Versäumnis thematisiert?

Die eine Wahl ist beendet. Die andere steht noch aus: Wollen wir genügsam kollektiv empört sein und Abermillionen Menschen, die Rechtsextreme wählen, verloren glauben, oder aber ihren Abgang aus der Mitte mit Bezug auf das Eigene aufarbeiten? Vor Jahren war die große Mehrzahl der Wählerschaft der AfD politisch unauffällig, eingebettet ins demokratische Spektrum. Dann muss etwas passiert sein.

Und das hat nicht mit der Brillanz des Radikalen zu tun. Der Demokrat ist nicht überzeugend. Er ist nicht stabilitätsstiftend, nicht vertrauensbildend. Seine Agenda ist abstrakt und arrogant, er überhebt sich über die Alltagsbewältigung seiner Bevölkerung, vor allem den Teil, der infrastrukturell abgeschnitten und kulturell abgeschrieben zu sein scheint. Gemeinden stehen wahlweise in der Auflösung oder in der Verwahrlosung. Das Gesicht des Staatsbürgerlichen schwindet. Gerade im Osten.

Das sind Gelingensbedingungen für Radikale. Beim Jugendlichen spitzt es sich zu. Veralberung und Verächtlichmachung durch Aktenkoffer-Memes und Dönerpreisbremsen-Ulk im Internet. Mehr hat der Demokrat nicht zu bieten. Der Junge ist programmatisch nicht angesprochen, kommunikativ nicht adressiert. Er wartet. Er erwartet. Dann kommt die Bahn nicht. Die Schule fällt auseinander. Unterricht aus dem letzten Jahrhundert, Lehrer am Limit. Keine Sozialarbeiter, keine Therapeuten. In der Stadt werden die WG-Zimmer unbezahlbar, an Eigentum zu denken wäre Hohn. Auf dem Land trocknet das Angebot aus. Alles verfällt, keiner investiert. Da ist kein Festival, kein Jugendzentrum, kein Wochenmarkt.

Auf Pandemie, Kriege und Krisen folgen Verunsicherung, Orientierungslosigkeit und Überforderung. Eltern verbittern, der Ton wird herrischer. Die Atmosphäre, der Sound: Untergang und Misstrauen, wohin man nur blickt. Die Vier-Tage-Woche ist keine junge Weinerlichkeit, sie ist ein Hilferuf. Der Junge will Desinformation erkennen, die Grenzen der KI diskutieren, Ausbeutung im Erwerbsleben bekämpfen, den Gesundheitsapparat modernisieren. Auf seinem Pausenhof, in seinem Vereinsheim, in seinem Fitnessstudio erfährt er, dass Integration nicht immer gelungen ist. Er fordert Integration, die gelingt. Die verlangt Ressourcen. Er will Sicherheit und Ordnung. Absurd, dass das heute rebellisch anmutet.

Der Junge strebt nach zukunftsfesten, generationengerechten Reformen. Er sucht nach dem Bild einer lebenswerten Gesellschaft und eines souveränen Kontinents im dritten Millennium. Er braucht die Verheißung auf das gute Leben. Zuversicht, Optimismus. Ein Gefühl davon, wie Glück in zehn oder zwanzig Jahren aussehen kann. Nur woher soll das Vertrauen kommen?

Der Demokrat windet sich in Tagespolitik. Bei keiner Partei ist eine Richtung erkennbar. Die Union quält noch immer ihre Kursfrage, vor allem im Osten. Die Ampel zerbricht an all ihren Wunschvorstellungen von schneller, bahnbrechender Klima- und Asylpolitik. Die Bezahlkarte für Asylbewerber, Abschiebungen nach Afghanistan. Sind das noch Grüne? Sämtliche Demokraten irren durch das politische Koordinatensystem wie Geisterfahrer.

Es ist nicht die digitale Kampagne, die Rechtsextreme und Jugend zusammenbringt. Die Absenkung des Wahlalters war kein Fehler. Der Junge ist weder dümmer noch schlauer als der Alte. Wer TikTok verbieten will, muss auch Instagram den Kampf ansagen. Der Rechtsextreme ist nicht genial. Der Demokrat ist selbstherrlich, großspurig, herablassend. Er verweigert sich. Das wird der Demokratie noch teuer zu stehen kommen.

Geraden den Jungen in diesem Wahlkampf, seit der Pandemie, während des Verlustes aller europäischen Gewissheiten von Frieden und Wohlstand, Stolz und Optimismus alleine gelassen zu haben, wird ein Fehler von historischem Ausmaß gewesen sein. Wenn eine Generation, die anders als andere noch niemals in ihrem Leben das Gedeihen der Demokratie erfahren hat, weiter lernt, an den Untergang zu glauben, dass sie selbst nicht zählt, und keine Antworten in Sicht sind, dann sind alle Bedingungen für die Zersetzung von Demokratie erfüllt. Das hat sich in der Geschichte mehrfach bewahrheitet.