
Der Westen reagiert geschlossen und mit Härte auf Russlands Überfall auf die Ukraine. Das ist richtig und wichtig. Doch in das Konglomerat wirtschaftlicher Sanktionen und die Versuche, Putins Regierung und dessen Apparate und Helfershelfer abzuschotten, mischt sich ein blindwütiger Furor, der Putins Feinde trifft und europäische Werte verrät. Europa ist selbstherrlich geworden. Ein Kommentar für FOCUS ONLINE.
Der russische Überfall auf die Ukraine war erst einen Tag alt, schon war Russland vom Eurovision Song Contest ausgeschlossen. Zukünftig will das europäische Musikantenstadl auf einen russischen Beitrag verzichten. Denn: Strafe muss sein. Das muss Putin geschmerzt haben, seine 150 Millionen Schäfchen endlich vom frohsinnigen, humorigen, schwulen Unterhaltungskessel befreit zu wissen.
Schluss mit Frauen mit Bärten, Männern auf Pumps, der Scham, in einem Wettkampf von Tradition, Kitsch und Zeitgeist gar erfolgreich zu sein. Zurück zu Putins Leitkultur aus Mannesmut, Opferbereitschaft und Nationalstolz. Sein Staatsfunk hat nun einen Sendeplatz mehr.
Wohin sollen freiheitsliebende Russinnen und Russen steuern?
Wem nützt dieser Ausschluss der Europäischen Rundfunkunion? Putin und seine Schergen lassen keine Gelegenheit aus, die eigene Bevölkerung vor der Verweichlichung durch Gayropa zu warnen. In Putins orthodoxem Reich ziele jeder europäische Einfluss auf die Vernichtung traditioneller russischer Werte ab.
Nur ein Tropfen Wonne, ein Funken Freiheit lässt den Kreml panisch werden. Toleranz-Paraden werden niedergeknüppelt, Homosexuelle eingesperrt, Kulturbeiträge aus dem Ausland zensiert. Doch wohin soll sich der freiheitsliebende Teil der 150 Millionen Russinnen und Russen steuern, wenn noch zusätzlich der Europäer seine Tore schließt?
Wie kommt diese Raserei in die Seele europäischer Debattenkultur?
Man steht in der Schuld, Bekenntnis zu leisten. Ukrainische Flaggen säumen die deutschen Balkone, auf Instagram werden Unterkünfte für Geflüchtete organisiert. Doch erst der Spott aufs Russische schreibt immer öfter fest, auf welcher Kampfesseite man steht. Nur ein Hauch Zurückhaltung, Differenzierung gar, lässt den Verdacht aufkommen, Angriffskriege zu billigen, über Todesopfer und Leidtragende hinwegzusehen, Putin-Versteher zu sein.
Wie kommt diese Raserei in die Seele europäischer Debattenkultur? Wann sind Triumphalismus, Instrumentalisierung und Verkürzung europäische Kulturwerte geworden?
Ein schwäbisches Restaurant unternimmt Passkontrollen: Russen verboten. Eine Bäckerei im Badischen streicht das Russische vor Zupfkuchen, ein Berliner Bistro vor Eierspeisen. Kulturelle Aneignung, hätten sich progressive Moralapostel noch vor kurzem erregt, heute beklatschen sie die kulinarische Geschichtsrevision. Der Zweck heiligt die Mittel.
Nur Irrläufer? Nicht doch, auch Kulturbetrieb, politische Elite, hochangesehene Intellektuelle stellen sich in den Dienst, europäisch-russische Beziehungen aus Jahrzehnten und Jahrhunderten aufzukündigen. Dirigenten, Sopranisten, Künstler werden entlassen, weil sie sich vorgefertigten Bekenntnissen verwehren. Auf diesen Nachweis seiner Macht hat Putin lange gewartet. Er sieht es, wie wir es ihm beweisen: Putin ist Russland. Russland ist Putin.
Es ist ein Fehler, Russland zu sagen und Putin zu meinen
Doch wer Russland sagt, aber Putin meint, erhebt einen verzweifelten Diktator zum rechtmäßigen Anführer einer gewachsenen Nation, in deren Auftrag er handelt. Das kann gar nicht stimmen, erstickt Putins Autokratie demokratische Grundlagen schon im Keim. Es wird Zeit, Putin als den verzweifelten Despoten zu enttarnen, der er ist. Nur die Destabilisierung des Systems Putin kann die Weltlage vor seinen Allmachtsfantasien und Invasionen befreien. Dieses Spiel ist nicht ohne 150 Millionen Russinnen und Russen zu spielen.
Nur wenige Tage nach Kriegsausbruch analysierte der israelische Historiker Yuval Noah Harari, Putin werde den Krieg verlieren, habe er sich doch darauf verlassen, dass das Ukrainische eine Erfindung der Amerikaner sei, die Ukraine keine wirkliche Nation, die Menschen in Kiew, Charkiw und Lemberg eigentlich Russen, die nach Moskau sehnten.
Stolz und Widerstand der Ukrainer belehrten ihn nun eines Besseren. Doch auch Harari lässt es sich nicht nehmen, Kiew als große historische Metropole zu huldigen, während Moskau nicht einmal Dorf gewesen sei. In welche Himmelsrichtung derartige Verletzungen das russische Volk anstößt, ist kein Rätsel.
Es wäre Zeit, diesen anbiedernden, selbstherrlichen Ton beiseitezutun, das geschichtsträchtige, geistreiche und freiheitsliebende Russland zu ermuntern, nach mehr zu streben als Putins Gefangenschaft, und sich so Putins Berechnung der europäischen Reflexe nach dem Überfall auf die Ukraine zu entziehen.
In einer Welt, die mehr Autokratien als Demokratien zählt, ist der Boykott kriegerischer Sprache, rassistischer Stereotype und eines selbstgerechten Moralismus der einzige Weg zu mehr Frieden.
Der Kommentar erschien am 9. April 2022 auf FOCUS ONLINE.