Angeber will man nicht sein. Warum eigentlich nicht? Weil mich der Zeitgeist gegaukelter Demut paternalisiert, kommandiert, verächtlicht, bin ich jetzt Angeber geworden. Ein Essay für DIE WELT im April 2024.
Seit ein paar Jahren entdecke ich eine Eigenschaft an mir, die zuvor nicht da gewesen ist. Ich bin angeberisch geworden. Dass ich neuerdings ein Angeber bin, erkennen Freunde und Bekannte sofort. Sie sprechen es an. Doch auch beim Kennenlernen sagen die Fremden: Du bist ja ein Angeber. Ich posaune, wie ich mit dem italienischen Rennrad vom flachen Bordstein springe, dass ich die Zigarette auch beim Baden im See anzünde, zeige die kleine Brandnarbe von der Pyrotechnik aus dem Fußballstadion. Alles ungefragt. Zählt es als Angeben, wenn die Anlässe derart lächerlich sind?
Ich gebe aber auch an mit all den Meeresfrüchten, die ich esse, mit dem alten Porsche, auf dessen Motorhaube eine auffällige Rennbeklebung prangt, mit Astronomiekenntnissen, Fischereifertigkeiten, Geschichten von Schiffsüberführungen und Jagdabenteuern. Mir selbst fällt das Angeben ebenfalls auf. Anfangs war da ein Schreck in mir. Angeber will man nicht sein. Warum eigentlich nicht?
Von der pastellenen Welt der Gurus in Sachen Selbstliebe und den Gläubigen der Kirche Achtsamkeit ist der Angeber maximal weit entfernt. Sogar die Blase, die das negative Gefühl an sich zu leugnen versucht, die für alles und jeden Verständnis heuchelt, kann sich tiefer, inbrünstiger, ehrlicher Verachtung für den Angeber nicht erwehren. Der Angeber leide unter Minderwertigkeitsgefühl, provoziere Applaus aus Unsicherheit. Er weise oftmals krankhaft übersteigerten Geltungswahn auf, sei angewiesen auf die Anerkennung der anderen. Oft stecke hinter der Angeberei eine veritable Profilneurose. Der Angeber profiliere sich, um die Angst der Bedeutungslosigkeit zu überwinden.
Das ist schon hart, so etwas über sich selbst zu lesen. Kaschiere ich mit meiner Angeberei die Einsamkeit eines Außenseiters? Lohnte es sich, in meiner Biografie nach Verletzungen zu suchen, die mich meinen Selbstwert bis heute infrage stellen lassen? Übertünche ich die einfache Herkunft mit materialistischen Markierungen? Vielleicht ist das alles so. Vielleicht ist es aber auch anders.
Wer die wirklich obszönen Angeber sind
Bei der Recherche über meinen Persönlichkeitsmakel stoße ich auf einen Text der Stil-Journalistin Claire Beermann aus dem „Zeit Magazin“. Sie nimmt sich die Angeberei des Musikers Lenny Kravitz vor. Dieser spare nicht mit Selbstbildnissen, die seine Athletik ins Licht rücken. Was ist dieser Typ trainiert. Kravitz stellt seine Übungen im Fitnessstudio aus. Die Langhantel hebt er mit Sonnenbrille in Lederhose. Beermann betont, man spüre keinen Hauch von Ironie. Mich provoziert allein der Gedanke, jemand könnte es ironisch meinen wollen. Tochter Zoë Kravitz berichtet leicht beschämt über die Vorliebe des Vaters für entblößende Hemden, durch die man seine Brustwarzen sehen könne. In Beermanns Text wird Lenny Kravitz’ Selbstbewusstsein gelobt. Keine falsche Bescheidenheit, schreibt sie, und macht sich stark für den Angeber Kravitz.
Nur für mich ist Kravitz nicht einmal einer. Wer mit 60 Jahren ausschaut wie Adonis, sich tagtäglich zu Stahl ackert, und diesen Verdienst präsentiert, der übersteigt sich nicht. Der zeigt nur, was ist. Das ist wahrheitsdienlich, das ist bodenständig. Es ist ein Zeichen der Zeit, dass sogar die Ausstellung der Fitness eines 60-Jährigen Verteidigung verlangt, weil die Mode der Askese uns ruiniert. Was faseln sie alle von Demut und Moral und Empathie und sind dabei die wirklich obszönen Angeber, ihr Menschsein auf ein Podest zu stellen, dem alle unterlegen sind, die auf Rowdy machen. Und genau deshalb bin ich Rowdy. Oder will es sein.
Wo radikale Unbekümmertheit gelebt wird
Der amerikanische Republikaner und der europäische Rechtsextremist haben einen Lauf. Es ist einfach Menschen einzufangen, deren Lebensweise von den progressiven, achtsamen Protestanten für ewiggestrig erklärt wird. Der Redneck schießt mit dem Moped durch den heiligen Wald, rülpst aus dem scheppernden Benziner, und begehrt das Begehren an sich. Worin ich Befreiung lese, den Aufstand gegen einen Anstand, der keiner ist, weil er konformistisch ist, sehen die anderen Dekadenz, Ignoranz und Arroganz. Aber nicht mit mir.
In einer Podiumsdiskussion über Nachhaltigkeit und Zukunft fallen Sätze wie: „Wir wissen, dass der Klimawandel kommt und machen dennoch zu wenig. Das ist wie Rauchen, obwohl wir wissen, dass es schadet. Das ist eine dissoziative Störung.“ Da poltert alles in mir los. Die bewusste Rauchentscheidung ist mündiges Gesundheitsrisiko nach Lustabwägung. Jemand bezieht sich auf den australischen Philosophen Roman Krznaric und seinen Nachhaltigkeitsansatz des guten Vorfahren. Es fallen Sätze wie: „Wir wollen doch nicht sterben, dass auf unserem Grabstein steht: Er hat fünf Autos besessen. Wir wollen doch mehr sein als das.“
Was wäre ich stolz, wenn ich Automobile aus dem letzten Jahrhundert derart gepflegt und gehegt hätte, dass sie mein eigenes Dasein überdauern, ich Zeit-, Kultur- und Technikgeschichte, Ästhetik und Lust erfahrbar mache für den Nachfahren. Das ist billig, das Leben der Raucher und Fahrer für politische Verantwortungslosigkeit in Geiselhaft zu nehmen. Und darum wird der Progressive abgewählt.
Angeben ist mehr als nur Befreiungsreflex
Ich bin Angeber geworden, weil mich der politische Zeitgeist gegaukelter Demut paternalisiert, kommandiert, verächtlicht. Deshalb bin ich jetzt Fußballultra, über den der Pseudointellektuelle die Nase rümpft, deshalb mache ich jetzt laute Motorengeräusche, dass der Protestant rot anläuft vor Wut, deshalb kaufe ich aus Prinzip Erotikmagazine, die vor Objektifizierungen nur zu strotzen. Obwohl ich fast lieber Gespräche mit den Darstellerinnen im Magazin lesen würde. Aber auch nur fast.
Ich will glauben, angeben ist mehr als nur Befreiungsreflex. Das fällt mir auf, als ich darüber nachdenke, wie ich angeberisch geworden bin. Und dann merke: Ich war es doch schon einmal. Als Kind war ich ein Angeber, wie alle Kinder Angeber sind. Seht doch mal her, wie oft ich den Fußball hochhalten kann! Schaut mal, ich kann einen Wheelie mit dem Fahrrad machen! Bist Du schon einmal höher geklettert als so, wie ich hier gerade? Ich habe mich geprügelt und er war viel älter und größer als ich!
Der Erwachsene schmunzelt. In der kindlichen Angeberei steht etwas Liebenswertes, etwas Unterhaltsames. Da entdeckt sich jemand, da übersteigt sich jemand. Das ist Streben. Das ist Fantasie. Der Erwachsene empfindet Stolz, kann die nächste Sprosse auf der Leiter nicht erwarten. Geduldig sieht er zu, nimmt Anteil mit Freude. Wieso kehrt sich dieses Urteil um? Und welche Überheblichkeit, welche Anmaßung steht im Gedanken, der Erwachsene dürfe nicht, was das Kind darf, schließlich sei er weiter als das Kind? Das ist eine Arroganz, von der der Angeber nur träumen kann.
Wer angibt, stößt über sich hinaus. Er formuliert etwas Ungegangenes. Das ist eine nach vorn gerichtete Weisung. Wie bei einem Olympioniken, der Nachweis erbringt, wozu der Mensch imstande ist. So wirft sich der Angeber vor den kulturellen Mainstream, vor das, das garantierten Applaus erhält. Er markiert eine Lebensweise, an der sich Gesellschaft reiben darf und soll. Das ist ein Verdienst für den Pluralismus, und obendrein verbindend und solidarisch. Dass er unterhaltend ist, Komödiantisches abliefert, – geschenkt. Er ist ein gesellschaftliches Vorbild. Geil, dass ich einer von ihnen bin.