Kommentar/FAZ.NET: Warum Angela Merkel die CDU nicht zur SPD-Kopie gemacht hat

Angela Merkel habe die CDU sozialdemokratisiert und dadurch ins Straucheln gebracht, sagen ihre parteiinternen Kritiker. Aber das ist Unsinn: Gerade um klassische Prinzipien zu bewahren, ist politische Beweglichkeit heutzutage Pflicht. Ein Kommentar für FAZ.NET.

Über das politische Berlin greift der Vorwurf einer angeblichen heimlichen bis umfassenden Sozialdemokratisierung des bundesdeutschen Staatslebens, seiner Wirtschaftspolitik und der, so scheint es, einstmals konservativen CDU um sich. Mit ihrer These von der Sozialdemokratisierung wollen die Urheber und Verteidiger eine neue Anstößigkeit im politischen System nachweisen. Obgleich die These bisher nicht sonderlich ernsthaft, seriös und vor allem belastbar ausgearbeitet wurde, trägt ihr Pathos der Entlarvung und ihre so köstliche wie steile Pointe zu ihrer problematischen Attraktivität und bemerkenswerten Popularität als Zeitkritik ungemindert bei.

Die angebliche Sozialdemokratisierung ist von einem raunenden Credo zu einer herrischen Distanzgeste in ganz verschiedenen politischen Lagern geworden. Doch so unterhaltsam die These auch sein mag: Von der Wirklichkeit ist sie nicht gedeckt. Was macht sie trotzdem so erfolgreich?

Warum der Vorwurf, die Union habe sich sozialdemokratisiert, vor allem von SPD, Grünen und Linken transportiert wird, liegt auf der Hand: Ihnen behagt der Gedanke, trotz ihres eigenen Niedergangs bei Wahlen und Umfragen mühe sich der siegreiche Konkurrent an der Adaption linker Positionen ab.

Aber auch national-libertären und national-konservativen Kreisen ist der unbehagliche Verdacht einer verdeckten – oder unentdeckten – Sozialdemokratisierung nach einem Jahrzehnt Merkelscher Kanzlerschaft mehr als dienlich: Er stützt die Legende des Machtvakuums und erklärt die selbsternannten bürgerlichen Parteien und Parteiflügel für unabkömmlich.

LINKE JOURNALISTEN BERUHIGEN SO IHR SCHLECHTES GEWISSEN

Dass die These der Sozialdemokratisierung der CDU auch von außenstehenden Beobachtern verbreitet wird, lässt sich hingegen nicht mit parteistrategischen Motiven erklären. Eher schon als autosuggestive Antwort auf Ralf Dahrendorfs „Ende des sozialdemokratischen Jahrhunderts“ von 1983. Dahrendorf schrieb damals, wo die historischen Aufgaben der Sozialdemokratie, die Integration der Arbeiterbewegung, der Aufbau des Sozialstaats und die Bildungsexpansion, zumindest hinreichend bewältigt würden, entledige sich die Sozialdemokratie ihres eigenen Bedarfs.

Die Unterstellung, dass sich der vornehmlich linke Journalismus ebenfalls an der Sozialdemokratisierungsthese erfreut, weil er mit dem Gedanken, die CDU schreibe mit dieser „Imitation“ eine längst obsolet gewordene linke Politik fort, sein schlechtes Gewissen beruhigt, ist deshalb nicht eben abwegig. Erst aus dieser linken Eigenermächtigung heraus folgt die Verunglimpfung des Christdemokratischen als „sozialdemokratisch“.

Überhaupt deuten die verflachten Bewertungen jedweden politischen Mühens um sozialen Ausgleich als „sozialdemokratisch“ auf Geschichtsvergessenheit hin. Als sei der Anspruch auf Gerechtigkeit ein vom Sozialismus gepachtetes Hoheitsgebiet, wird jeder politische Vorstoß, der klar auch in der christlich-sozialen Traditionslinie steht, als unionsuntypisch gekennzeichnet.

Doch das könnte falscher nicht sein. Schon vor Jahrzehnten galt der kapitalismuskritische rheinische Sozialkatholizismus als einflussreiche Minderheitenposition in der CDU. Er durfte nicht ignoriert werden, wollte man die Hegemonialstellung in der Wählerschaft nicht gefährden.

Auch die Einführung der dynamischen Rente, die schon 1955 vom Kabinett Adenauer beschlossen wurde, oder die Institutionalisierung der paritätischen Mitbestimmung in der Montanindustrie zeigen, wie sehr die CDU von Anfang an in der größtenteils katholischen Arbeitnehmerschaft verankert war – und wie sich die Partei schon früh christlich-soziale Elemente in ihr politisches Denken einverleibt hat.

Auch deshalb empfiehlt es sich, sich dieser Tage noch einmal mit der bedeutenden Sozialenzyklika „Rerum Novarum“ von Papst Leo XIII. auseinanderzusetzen. Sie legte vor 125 Jahren den Grundstein zur Entwicklung der katholischen Soziallehre, einem Urquell christdemokratischer Programmatik.

In einer Welt, die fortschreitend globalisierter, kompetitiver und disruptiver wird, bedingt die Bewahrung klassischer Prinzipien geradezu politische Beweglichkeit. Die Sozialpartnerschaft, ihrem Sinn nach eine „Friedenslehre“, gilt seit Alfred Müller-Armack expressis verbis als konstitutiver Eckpfeiler der Sozialen Marktwirtschaft.

POLITISCHE BEWEGLICHKEIT HEIßT NICHT PRINZIPIENLOSIGKEIT

Die Einführung des Mindestlohns kann deshalb auch als Reaktion auf den Rückgang der Tarifbindung und die Krise des Tarifsystems gesehen werden, die den Fortbestand des sozialen Friedens sichert.

In den maßgeblichen CDU-Sozialausschüssen war die „allgemein verbindliche Lohnuntergrenze“ schon seit Jahren mehrheitsfähig. Mit einer Sozialdemokratisierung haben dieses und ähnliche Manöver aber nichts zu tun. Vielmehr zeugen sie von der Überwindung eines Denkens in Altmetaphern, das die Wirklichkeit schon längst nicht mehr durchdringt.

Das Festklammern an Hohlbegriffe, deren Prämissen längst museal geworden sind, ist nichts als Illusion. Das zeigt sich auch in der vom Meinungsforschungsinstitut Allensbach zuletzt beschriebenen diffusen Angst der Bürger vor Veränderung, die eigentlich Abstieg meint. Die Hoffnung auf das lieb gewonnene „Weiter so“ stirbt zuletzt, aber sie verklärt die Wirklichkeit.

Steht die Rückbesinnung der CDU auf christlich-soziale Werte zugleich auch für ihre Rekatholisierung? Nein. Der politische Katholizismus rückt schon seit Jahrzehnten in den Hintergrund, stattdessen dominiert der der säkularisierten Welt ungleich genehmere Protestantismus nicht nur personell Land, Regierung und Unionspartei.

Ob in Fragen des Selbstbestimmungsrechts der Frau, der Gleichstellung von Mann und Frau, der Anerkennung verschiedener Lebensentwürfe oder auch des Ausbaus der außerfamiliären Kinderbetreuung – mit der fortschreitenden Entfernung der CDU (wie der Gesamtgesellschaft) von altpäpstlichen Positionen wird die Union auch immer mehr als eine Partei der modernen Liberalität wahrgenommen.

Auch das steht im ausdrücklichen Widerspruch zur These der Sozialdemokratisierung, mit der immer auch ein Mehr an Bevormundung, Zwangsmoral und Überstaat einhergeht.

FREIHEIT KONSEQUENT WEITERDENKEN

Der Kurs von Angela Merkel in der Flüchtlingskrise, der in der Union von manchen jetzt so kritisiert wird, denkt Freiheit hingegen konsequent weiter. Wurden die Wanderungsbewegungen von Kapital, Informationen und Gütern bislang stets begrüßt, weil sie der Mehrung des deutschen Wohlstands dienten, reagieren viele auf die Wanderungsbewegungen von Menschen (sic.) jetzt mit der Forderung nach illiberalen, verbarrikadierenden Schutzmechanismen.

Es ist nicht zu verhehlen, dass die Unionsparteien in dieser Frage uneins sind, auch wenn sie auf diese Differenzen bislang besonnen reagiert haben. Überhaupt scheint der gelebte Liberalismus, der in CDU und CSU entgegen anderslautender Kritik schon jetzt reichhaltig vorhanden ist, unspezifisch und partikular.

Er splittet sich auf in marktwirtschaftliches Denken, den Abbau von Zwangsmoral, die Befreiung der Frau, die Nichtidealisierung von Bindungslosigkeit, das Bekenntnis zu Diversität – gebündelt tritt er aber nur selten auf. Dabei ist das dringend notwendig, um der Union neue Strahlkraft zu verleihen. Auch deshalb ist der angekündigte Rückzug der Bundestagsabgeordneten Kristina Schröder und Dagmar Wöhrl so bedauerlich.

DIE CDU MUSS IHRE EIGENEN ÜBERKOMMENEN KATEGORIEN ÜBERWINDEN

Der Demoskop Matthias Jung von der Mannheimer Forschungsgruppe Wahlen hat dem CDU-Präsidium in den vergangenen Wochen empfohlen, seinen gegenwärtigen Kurs beizubehalten. Er hat Recht damit.

Die progressive Mehrheitsgesellschaft aus evangelischen Christen, katholischen Liberalen und einer Vielzahl kirchenferner Mitglieder der Gesellschaft spricht sich schon heute sehr deutlich auch für ein selbstbestimmtes Sterben in Würde oder die Öffnung der Ehe für gleichgeschlechtliche Paare aus.

Es ist an der Zeit, dass auch die CDU diese zeitgemäßen Antworten nicht mehr wehmütig und zweifelnd vorträgt, sondern selbstbewusst, überzeugend und befreit. Doch dafür muss sie erst ihre eigenen überkommenen Kategorien überwinden: das Schwarz-Weiß-Bild von linearen „linken“ und „rechten“ Gesinnungen.

Der Kommentar erschien erschien am 18. Mai 2016 auf FAZ.NET. Online abrufbar hier: http://www.faz.net/aktuell/politik/inland/gastbeitrag-warum-merkel-die-cdu-nicht-zur-spd-kopie-gemacht-hat-14237527.html