Kommentar/DIE WELT: Trumps Wahlsieg ist ein schmerzendes Zeichen von Demokratie

Donald Trumps Wahlsieg: Was hat ihn möglich gemacht? Wie muss er gedeutet werden? Ist er in ein globales Phänomen einzureihen? Zwei Tage nach der Wahl Trumps zum 45. Präsidenten der Vereinigten Staaten von Amerika habe ich einen Kommentar für DIE WELT verfasst.

Nach Trumps Wahl üben sich Beobachter innerhalb und außerhalb des Landes in Reflexhaftigkeiten. Die „Trumpocalypse“ sei Wirklichkeit geworden, heißt es. Hinter Rufen wie „Not my president“ und „Not my vote“ vereinigt sich gefühlt die Hälfte des geteilten Amerika. Der Hass auf Trumps Wahlklientel grassiert in den sozialen Medien.

Es fällt schwer, gerade auch mir, jung, bunt, liberal in allen Extremen, das vorliegende Wahlergebnis fernab persönlicher emotionaler Betroffenheit aufzunehmen. Trumps Wahl, die als Präferenz seiner Positionen verstanden wird, bestätigt, dass das Feindbild „Minderheiten“ in Amerika taugt. Für Millionen Migranten und Homosexuelle ist dieses Ergebnis die Prophezeiung allgemein akzeptierter Demütigung und Geringschätzung.

Darum fällt es so schwer, das vorliegende Wahlergebnis als gerecht zu respektieren. Doch wer sich für einen Demokraten hält, ist genau dazu verpflichtet. Mehr noch: Er muss sich die Frage gefallen lassen, warum die gebotene Alternative Trump unterlag.

Der nüchterne Blick auf Demokratie als solche sagt: Demokratie ist genau jene legitime Artikulation der Gefühlslage einer freien Wählerschaft, die in der Wahlnacht die Sphäre des Vorstellbaren verlassen hat und Wirklichkeit geworden ist.

Die Wahl ist die Herzkammer der Demokratie; gerade deshalb mutet die Limitiertheit des Wahlaktes oft befremdlich an. Genau das wurde deutlich in allen auf den Straßen geführten Gesprächen. Worin liegt das Wesen des demokratischen Wettstreits und der freien Wahlmöglichkeit bei einem limitierten Angebot von Pestoder Cholera? Das Signal dieser Wahl ist: Wir wollen mehr als Pest oder Cholera.

Galt das Nichtwählen lange Zeit als einzige Möglichkeit der Artikulation von Frust, Überdruss und Erbitterung, ist mit der Wahl jener, die Establishment und Medien für absurd und aberwitzig halten, eine neue Möglichkeit geschaffen. Im Grunde ist dies ein schmerzendes Zeichen der Gesundheit einer Demokratie, weil dieser im System zulässige Fingerzeig etwas artikulieren will, das anders nicht abgebildet werden kann: die Unzufriedenheit mit dem System selbst.

Sicherlich mögen die hohe Komplexität und Unübersichtlichkeit postmoderner Gesellschaften mit ein Grund dafür sein, warum die Verführbarkeit durch einfache Antworten wächst. Sicherlich mag die Priorisierung des respektvollen Umgangs mit Minderheiten verfehlt erscheinen bei der Gewinnung der weißen Mittelschicht, für die die Ödnis ausbleibender Investitionen und die Furcht vor wirtschaftlichem Abstieg ein dringlicheres Thema ist.

Im Kontext betrachtet, reiht sich der Wahlsieg Trumps in all seiner Rhetorik in das weltweite Phänomen des Aufstiegs der Elitenverachtung und Systemkritik ein. Darin liegt das Paradoxon des Triumphs. Trump ist Multimilliardär und verkörpert doch eine bizarr anmutende Solidarität mit denen, die sich verraten fühlen.

Geht es nach der belgischen Politologin Chantal Mouffe, war diese Aggression vorherzusehen. Ihrer Ansicht nach ist es fatal, inhaltliche ideologische Kategorien durch moralische Kategorien von „gut“ und „böse“ oder „richtig“ und „falsch“ zu ersetzen. Trumps Wahlsieg ist eine Antwort darauf, dass der legitime Meinungskorridor immer weiter verengt wurde.

Die Figur Donald Trump ist ein demokratisches Instrument, das uns nicht durch seine Präsidentschaft, sondern allein durch seine Wahl zum Präsidenten etwas mitteilen will, vor dem wir uns hüten sollten, es umzudeuten, kleinzureden oder zu ignorieren.

Demokratie darf nicht bedeuten, einen Kampf von Gut gegen Böse zu etablieren. Demokratie bedeutet in erster Linie, jeden Gegenentwurf als Gegenentwurf auf Augenhöhe zu verstehen, wenngleich er inhaltlich als das enttarnt werden darf, was er ist. Wer sich nach einer zuverlässigen demokratischen Kultur im Sinne eines geordneten Wettstreits politischer Ideen sehnt, tut fehl daran, den Korridor der politischen Mitte zu verengen.

Der Kommentar erschien am 11. November 2016 in der WELT. Online abrufbar hier: http://www.welt.de/print/welt_kompakt/debatte/article159421973/Schmerzendes-Zeichen.html