Podcast/The Pioneer: Anti-Aging als Kulturkonzept ist entwürdigend

Das Bild der Alten in unserer Gesellschaft ist entmenschlichend, entwürdigend, hochgradig primitiv, unzureichend, undifferenziert und explizit nicht an den Potenzialen dieser Generation orientiert. Wer die Mehrheit unserer Bevölkerung derartig adressiert, braucht sich über Entkoppelung und Ignoranz nicht wundern. Ein Plädoyer in der Podcast-Reihe „Der 8. Tag“ für Gabor Steingart.



„Guten Abend, mein Name ist Diana Kinnert, ich bin Unternehmerin und politische Beraterin, und unter 30 Jahre alt. Und ich möchte heute mit Ihnen über die Alten sprechen.

Dazu gibt es genügend Anlass. In der jüngeren Vergangenheit, explizit auch im Erleben der Pandemie, haben wir so einige Assoziationen zu den Generationen der Hochaltrigen erfahren. Darunter aggressive Zuschreibungen, ignorante Schmähungen und ein in seiner Absolutheit falsches Opfer- und Notnarrativ.

Die Alten. Das sind die Befürworter des Brexit, so sieht die Soziologie der Mehrheit der AfD-Anhänger aus, rechtsnationaler Populismus insgesamt nährt sich aus der Alterskohorte der Alten bis sehr Alten. Die liberale, offene Gesellschaft, eine Zukunft offener Grenzen, eine Gesellschaft von Inklusion und Innovation, das sind wir Jungen. Und das Klima retten wir auch. Die Alten sind in museal gewordener Drecksindustrie verhaftet, strukturkonservativ, klimafeindlich, umweltschädigend. Und wohlstandssatt, egogetrieben, verantwortungslos, Dieselfahrzeuge, Kreuzfahrtschiffe, Abgase, Schornsteine: Der Fortschritt der Alten. Oma und Opa, Umweltsäue eben. Oder wir haben Mitleid mit ihnen. War unser Blick in der Corona-Krise immerzu von Ebenbürtigkeit geprägt, wenn wir über die Alten gesprochen haben? Waren sie für uns nicht oft pauschal belastende, ungewollte, schwache Sterbende? Die Alten – um die eigenen Stimmen verlegen, aber wir wissen es sowieso besser: Sie sind rechtsnational, klimafeindlich, eine Belastung. Aber zum Glück nicht mehr lange, bald schon tot, die Zukunft gehört uns Jungen.

Da muss man einmal durchatmen. Denn meine Erfahrung sagt, das gezeichnete Bild der Alten sieht tatsächlich so aus, im Diskurs werden ihnen genau diese Rollen zugeschrieben. Wir sollten besser wissen: Das ist entmenschlichend, entwürdigend, hochgradig primitiv. Insgesamt unzureichend, undifferenziert, und explizit nicht an den Potenzialen dieser Generationen orientiert. Das Bild der Alten, es sagt doch vielmehr etwas über die Schauenden und ihre Tristheit aus.

Die Alten und ihre Rolle in unserer Gesellschaft. Dass sie so anklingt, wie eben beschrieben, von allen anderen herabgewürdigt, aber selbst zu beschämt, sich in Würde wieder hochzusprechen, das hat etwas mit dem kulturellen Wert des Alters, der Seniorität in unserer Gesellschaft zu tun. Das Alte ist in westlichen Zivilisationen kulturell unsichtbar. Das Aussehen, der Esprit, der Aktivismus, das ist jung, mindestens junggeblieben. Anti-Aging als Kulturkonzept.

Da fasst man sich an den Kopf. Anti-Aging als Kulturkonzept. Das ist lebens- und menschenfeindlich. Glauben Sie mir, ich bin eine junge, lesbische Frau mit Migrationshintergrund, ich habe im Privaten so einige Schmähungen aufgrund dieser soziologischen Attribute erlebt, aber niemals eingebettet in die gesellschaftliche und kulturelle Zielsetzung meiner Zeitgenossen. Doch dass es mit dem Alter abwärts geht, wir die Zeit bis zum Tode irgendwie heimelig gestalten wollen, – da wundert man sich doch nicht über die Daseinsscham der Alten, über die Verzweiflung über ihre Unsichtbarmachung, ihre Unerwünschtheit, und dann auch nicht über ihre Gegenwehr.

Ich bin überzeugt: Wie wir über die Alten denken, was wir prägen, wie die Alten über sich selbst denken, das schafft Verunsicherung und eine Verführbarkeit für auch destruktives Dagegen. Ein Ohnmachtsgefühl, das sich in Widerspruch übersetzt, demokratisch absolut nachvollziehbar, aber nicht immer unbegleitet von extremistischen Tendenzen. Populistischer Rechtsnationalismus
pathologisiert? Nein, sicher nicht in dieser Absolutheit, aber es besteht mindestens eine Korrelation. Sprechen Sie einmal nicht mit dem besorgten, dem wütenden Bürger über die Besorgheit, die Wut. Wenn er denn alt ist, sprechen Sie einmal mit ihm über das Alter. Wenn es denn geht – so ganz ohne Scham.

Corona und die Folgen der Pandemie haben die heute Hochaltrigen in die Aufmerksamkeit getragen, doch auch hier: Eher mitleidsvoll, und damit ungemäß. Ich will dieses Innehalten in der Krise dafür nutzen, um für ein neues kulturelles Sinnkonzept für die Hochaltrigen in unserer Gesellschaft zu werben und für eine neue Gesellschaftsarchitektur, die sich auf eine demographisch radikal alte und alternde Bevölkerung einstellt, und dafür agile Infrastrukturen bereitstellt. Es geht um Anpassung, um Pragmatismus, um eine Haltung von Transitivität, die transitive Gesellschaft. Nur wer den Alten eine neue Art der Eingebundenheit, der Partizipation einräumt, macht sie zu Konstrukteuren der Gesellschaft, also jenen, die konstruktiv, an deren Bestehen interessiert sind. Die mit diesem Verantwortungswillen und diesem Haftungsanspruch auch wählen gehen.

Wem nützt das? Vor allem doch uns Jungen. Wir Junge müssen verstehen: Wenn wir klimafreundliche, innovative, solidarische, freiheitliche Politik für die Zukunft umsetzen wollen, müssen wir in einer Demokratie wie der unseren auch zwingend mehrheitsfähig sein. Doch zahlenmäßig sind wir Junge nicht mehrheitsfähig, wir werden es in nächster Zeit auch nicht mehr sein. Worüber sprechen wir eigentlich? Über Digitalisierung, über Globalisierung. Wann beschäftigen wir uns endlich mit dem demographischen Wandel? Die Veränderung unserer Demographie, sie kommt sehr schnell, sie ist schon da, und sie ist extrem, stellt unsere Gesellschaftsarchitektur auf den Kopf. Wir werden älter und älter, die Alten sind schon in der Mehrheit, sie bauen ihre Mehrheit nur noch aus. Wie dumm wäre es, nicht an ihrem politischen Zuspruch interessiert zu sein?

Nur wer die Alten gewinnt, für ihre ganz eigene Situation, aber ja, auch für die ihrer Kinder und Enkelkinder, ist ermächtigt, seine Politik für die Zukunft auch umsetzen zu können. Neue innovative Altenpolitik, die Vertrauen stiftet, Verlässlichkeit gründet, ist wahrscheinlich die schlaueste und effektivste Maßnahme für eine gute und gesunde Zukunft. Denn das Schicksal der Alten ist vor allem auch ein Phänomen der Moderne, eine Krise der Moderne. Die Antwort darauf eine moderne Antwort.

Bis 15 Jahre bist Du Kind, bis 25 Jahre machst Du Deine Ausbildung, bis 65 Jahre arbeitest Du. Und dann? Unter Bismarck war die Lebenserwartung derart kurz, dass Du das Wort Rente gar nicht aussprechen konntest. Heute hast Du nach dem Erwerbsleben noch zehn, zwanzig, manchmal dreißig, vierzig Jahre zu leben. Tendenz steigend. Drei Jahrzehnte ohne gesellschaftliche Aufgabe? Schwierig.

Die Scheidungsrate sagt, Du verbringst diese Jahrzehnte oftmals nicht mit einem Partner. Die Willkür des Krebs sagt auch, vielleicht bist Du jahrzehntelang verwitwet. Deine Kinder und Enkelkinder leben in einem anderen Land, einem anderen Bundesland, einer Großstadt, Du hingegen nicht. Sie kommen nicht wöchentlich auf Kaffee und Kuchen bei Dir vorbei. Reden über das Internet, Skype, Zoom, Whatsapp, das kennst Du nicht, das kannst Du nicht. Die Kirchen sind leer, die Vereine sterben aus, soziale Orte für Alte? Gibt es kaum. Zugeben, als stolzer Bürger, der sein Leben lang gearbeitet hat, der eigentlich Familie, Freunde hat, das man einsam ist? Niemals. Und doch: Du kannst nicht ansprechen gegen die Trends und Zahlen; die Fliehkräfte der Postmoderne existieren. Unsere Gesellschaft fragmentiert, wir sind ihre Separatisten.

Einsamkeit also. Nur ein Symptom der postmodernden Gesellschaft, nur ein Bedürfnis in einer zeitgemäßen Altenpolitik. Aber mit derartig extremen, schweren Folgen, das einem schlecht wird.

Immer mehr Menschen sagen von sich, sie sind einsam. In Großbritannien lebt über die Hälfte der 75-Jährigen allein. Über 200.000 Senioren sprechen seltener als einmal im Monat mit Familie oder Freunden. Und wir drehen am Rad, wenn wir zwei Wochen unseren Haushalt nicht verlassen dürfen? Wachen wir auf.

Studien belegen, dass Einsamkeit das Risiko für chronischen Stress, Herz-Kreislauf- Erkrankungen, Depressionen, Demenz und einen frühen Tod deutlich erhöht. Die Auswirkungen des Gefühls des Alleinseins auf die Mortalität verdeutlicht eine Studie der Brigham Young University. Darin zeigt sich, dass Einsamkeit in Bezug auf die Gesamtmortalität so schädlich ist wie starkes Rauchen oder langjährige Adipositas.
In Großbritannien, Dänemark, Japan, Australien und weiteren Ländern wird Einsamkeit bereits als ein ernstzunehmendes Problem für die öffentliche Gesundheit wahrgenommen und mit verschiedensten politischen Maßnahmen bekämpft. In Deutschland nicht.

Ich habe an der Einrichtung des weltweit ersten Ministeriums gegen Einsamkeit unter Premierministerin Theresa May in Großbritannien im Jahr 2018 mitgewirkt. Die britische Regierung gab dazu bekannt, Einsamkeit sei auf dem Weg, „Großbritanniens gefährlichste Erkrankung zu werden“. Doch eben nicht nur im engen gesundheitspolitischen Sinne. Über die extremen gesundheitlichen und gesamtwirtschaftlichen Folgen hinaus bedrohen Einsamkeit, soziale Isolation und Segregation in der Gesellschaft die Grundpfeiler der Demokratie. Das Selbstverständnis eines Gemeinwesens als Gemeinwesen ist Grundvoraussetzung für Staat und Politik. Wo Bindungen aufweichen, Gemeinsamkeiten abnehmen und der Zusammenhalt schwindet, haben Spalter ein leichtes Spiel. Entsolidarisierung und Entfremdung sind dann wieder ein dankbarer Boden für extreme politische Gesinnungen.

Doch wie können Anti-Einsamkeitspolitik, neue Altenpolitik, agile Infrastrukturen, eine Politik der Transitivität aussehen? Das ist doch leicht. Eine Politik, die auf alte und damit immunschwache Menschen eingestellt ist, reinigt die Haltegriffe im öffentlichen Nahverkehr öfter, sie muss die Grünphasen für Fußgänger verlängern. Sie baut intelligente, kurze Wege, mit Vorsicht bei Stufen. Dafür muss sie nicht historische venezianische Brücken einreißen und behindertengerecht umgestalten; aber es nützte, könnte man in einen stufensteigenden Roboter einsteigen, wie ich mich auf einen E-Scooter stellen kann.

In Japan gehen 50- bis 70-Jährige für 70- bis 90-Jährige einkaufen. Sie sammeln Einkaufspunkte, die sie im Alter selbst einlösen dürfen. Die japanische Regierung spricht von einem schönen Nebeneffekt, für mich der eigentliche Haupteffekt, dass beim Einkaufstüten prüfen, schnell Kaffee gekocht und am Tisch zusammengesessen wird. Plötzlich sind zahlreiche 50- bis 70-Jährige bis zahlreichen 70- bis 90-Jährigen befreundet. In Asien überhaupt, einem auch sehr alten Teil dieser Erde, wird gemeinsam Gymnastik gemacht, eine schöne Begegnungsaktivität.

Bei uns könnte man zumindest britischen Erfolgen nacheifern. Mehr Mehr-Generationen-Häuser, die Förderung von Nachbarschaftsgenossenschaften, den Ausbau der Rufbusse auf dem Land, die Ausweitung der technologischen Unterstützung im Alltag der Alten, Workshops für digitale Kommunikation, alters- und alternsgerechte Beschäftigung und Betätigung. In Großbritannien sind die Briefträger der Royal Mail durch verbesserte Arbeitsbedingungen dazu angehalten, einen Plausch an der Haustür zu halten, auf nicht entleerte Briefkästen zu achten, Symptome der Einsamkeit zu erkennen. Britische Ärzte sind gesetzlich verpflichtet, Einsamkeitsfortbildungen zu machen. Sie verschreiben dem Depressiven nicht bloß ein Antidepressivum, sie forschen, ob die soziale Umgebung nicht auslösend sein kann für den Frust und die Lethargie. Dann heißt es: Chor, Schachclub oder Lesekreis auf Rezept. Oder vielleicht Schularbeiten korrigieren oder Klausurschreiben überwachen. Warum nicht Altersheime und Kindergärten zusammenbauen?

Fakt ist, die Alten müssen zurück in die Mitte der Gesellschaft. Das ist gut für sie, das ist gut für uns.

Eines noch: Eine Partei gibt es, die in Deutschland an diesem Thema arbeitet. Ausgerechnet Rechtspopulisten haben im größten Landesparlament in Nordrhein-Westfalen die Einsetzung einer Enquetekommission zur Untersuchung von Einsamkeit und sozialer Isolation und den daraus resultierenden physischen und psychischen Folgen auf die Gesundheit erwirkt. Ihr Fraktionssprecher sagte dazu, „das gute Zeichen von Düsseldorf“ in den Bund tragen zu wollen. „Denn das stünde der AfD gut zu Gesicht.“

Ich will dieses Plädoyer damit enden. Damit die Dringlichkeit dieser Angelegenheit bei Ihnen haften bleibt. Einen schönen Abend.“