
Für die Serie „Corona-Briefe“ von Christ & Welt und der ZEIT habe ich einen Brief an den im November 2016 an den Folgen einer Krebserkrankung verstorbenen Vizepräsidenten des Deutschen Bundestages Peter Hintze geschrieben. An meinen ersten und letzten Chef.
Berlin, 6. Mai 2020
Lieber Peter Hintze,
diesen Brief an Sie zu schreiben, fällt mir nicht leicht. An einen, der leben wollte und sterben musste. An einen, an den nicht nur gerne und versöhnt erinnert wird, sondern der genauso schmerzlich vermisst wird. Sie wurden zu oft verunglimpft, geschmäht, öffentlich bewusst verletzt. Nun herrscht Stille. Die letzte Ruhe. Frieden.
Man kann ein Andenken auch stören. Durch missbräuchliche Berufung zum Beispiel. Einem Menschen, der nicht widersprechen kann, Worte in den Mund legen. Ihn zur Figur einer eigenen Agenda erklären. Von all diesen Verbrechen, die im politischen Geschäft mehr die Regel denn die Ausnahme sind, habe ich vor einigen Jahren wenig gewusst. Sie haben mir über solche Dinge Bescheid gegeben.
Über drei Jahre ist Ihr Abschied nun her. Vor einer Woche wären Sie 70 Jahre alt geworden. Viele Menschen haben an Sie gedacht. Und über Sie geschrieben. Wenn Menschen an Sie erinnern, klingen Sie bewegt und milde. Für mich rückt Ihr Bild dann weiter in die Ferne. Es verliert an Sattheit.
Wenn ich an Sie denke, stellt sich nichts Sentimentales oder Salbungsvolles ein. Wenn ich an Sie denke, werde ich wieder neugierig, etwas aufmüpfig, sofort unverzagt, angespornt, erfinderisch. Ich denke dann doppelt so schnell wie gewöhnlich. Ich spreche dann auch so. „Weiter, weiter, weiter“, höre ich Ihre Stimme dann in meinem Kopf sprechen – wie so oft, wenn ich für Ihre Gedankengänge noch zu lahm und undicht gesprochen habe.
Wenn ich an Sie denke, ist die Ungeduld in mir geweckt. Das Träumerische, das Spitzfindige und Listige, auch das Lustige. Die Zeit, die ich mit Ihnen erlebt habe, war genau so. In ihrem hellen Vizepräsidentenbüro politische Pläne zu schmieden, das fühlte sich an wie unerschrockene Detektivarbeit im versteckten Kabuff. Minister schlichen ein und aus.
So mancher Politiker, der Ihren Rat einholen wollte, fragte derart Dämliches, so ganz ohne Gespür für die Menschen oder sich selbst, dass ich es nur für einen Witz halten konnte. Ich suchte dann in Ihrem Gesicht nach forscher Gegenrede. Aber Sie haben nicht einmal die Augen verdreht. Ihre Offenheit, das Zugewandte, Gütige hat mich oft auch irritiert. Sie haben sogar Nichtsnutzen Karrieren eröffnet, habe ich gedacht.
Gottes Mensch ist nicht der schlaueste. Er ist nicht der schnellste, nicht der fähigste. Er ist nicht immer rechtens. Nicht frei von Fehlern. Gottes Mensch ist Mensch. Ihnen hat das gereicht.
Die hehre Politik: Ein Betrieb aufgescheuchter Hühner. Menschen in all ihren Unzulänglichkeiten, Gefangenheiten und Kindereien. Menschen, die ob der Einsamkeit der Macht aus dem praktischen Alltag fallen. Ihr gesellschaftliches Antlitz polieren, während das Zuhause auseinanderbricht.
Die politische Karriere veranlasst, sich selbst zu vernachlässigen. Manchmal bis zur Entstellung. Manche konnten sich selbst nicht mehr leiden. Sie konnten sie alle leiden.
Peter Hintze, der Königsmacher. Ein politisches Geschick ohnegleichen, immer den richtigen Riecher. Aber darum haben Minister und Präsidenten Sie nicht aufgesucht. Nicht wegen des Geruchs der Macht, nicht für einen schnellen Aufstieg. Manchmal in der Hoffnung, in Ihrem Licht zu stehen, ließe sie wachsen. In Ihrer Umgebung waren sie weniger schambehaftet.
Sie waren mehr als nur der scharfsinnigste Funktionär. Sie waren am meisten Mensch. Bei Ihnen erlaubten sie sich, ebenfalls Menschen zu sein.
Ich erinnere mich gerne an unser Kennenlernen, ein unprätentiöses. Ich war Mitglied der Jungen Union in Ihrem Wahlkreis. Aufgrund der hohen Ämter waren die einfachen Besuche selten geworden. Auf Parteiveranstaltungen waren Sie immerzu umringt von Freunden, Kollegen, Interessierten. Wir nickten uns freundlich zu, kannten einander aber nicht.
Bei einem Auftritt im Wahlkampf besuchten Sie unseren, das heißt Ihren, Informationsstand auf dem Marktplatz. Parteifreunde stellten sich sofort zu Ihnen. Schnell entstand ein geschlossener Kreis. Jeder genoss, dazuzugehören. Wozu auch immer.
Sie waren der erste, der aus dem Kreis wieder heraustrat. Dem Bürger nicht den Rücken zuwenden, sondern das Gesicht. „Schauen Sie mal bei Frau Kinnert!“ Seit diesem Tag stand ich unter Ihrer Beobachtung.
An meinem ersten Arbeitstag in Ihrem Abgeordnetenbüro erhielt ich die Aufgabe, einen Entwurf für Ihre unterstützende Rede im Kommunalwahlkampf zu fassen. „Wehe, das klappt nicht mit dem Zeitungstitel“, scherzten Sie. Die Kollegen lachten. Aber Ihr Wesen kitzelte meinen Esprit heraus. Ich schrieb die Rechtfertigung eines schrecklich unaufregenden kommunalen Spardiktats in ein Plädoyer für eine enkeltaugliche Zukunft um.
Am nächsten Morgen sendeten Sie mir bloß eine Ziffer per SMS. Es dauerte ein wenig, bis ich sie auch als Seitenzahl der Lokalzeitung verstand: „Hintze für enkeltaugliche Stadt“. Das hatte sich angefühlt wie: „Wir sind Papst!“ Der erste Sieg. So habe ich bei Ihnen gelernt. Spielerisch.
Mancher hat Ihre Loyalität mit blindem Gehorsam verwechselt, Ihre Freude an der Politik mit einem Unernst der Sache gegenüber. Wenn Sie über Mehrheiten spekulierten und Prozentanteile errechneten, warf man Ihnen vor, nicht an den Menschen zu denken. Ein Pfarrer, der in Hinterzimmern taktiert. Ein Christ, der das Ritual in Zweifel zieht, der die Regel bricht. Befremdlich.
Aber ich habe Sie bewundert. Bekenntnisse mit Rückgrat, Geltendmachung ohne Vorteil, keine Scheu vor Verantwortung. Sich gegen die Verengung des Rituals zu sträuben. Eine Regel als Zeugnis ihrer Zeit zu verstehen. Platz für neue Traditionen zu schaffen. In das Nachkommende zu vertrauen. Sie haben nur schwer ertragen, wenn der Mensch die eigene Unmündigkeit wählte. Und es doch akzeptiert. Ernster kann man es mit einem Menschen nicht meinen. Näher kann man ihm nicht stehen.
Wenn heute von Führungslosigkeit gesprochen wird, vor allem in der Partei, fällt immer auch Ihr Name. Ich bin sicher, ob Friedrich Merz, Armin Laschet, Jens Spahn oder Norbert Röttgen am Ende an der Parteispitze thronen, hätte zu Ihren Lebzeiten Ihre Gunst entschieden. Ich kenne kaum einen politischen Beobachter, der Ihren Einfluss für geringer hält. Darüber hätten Sie sich jungenhaft gefreut. Und doch war es Ihnen nicht wichtig.
Ihnen war nicht an der Inszenierung der eigenen Person gelegen. An der Macht, geschweige denn der eigenen Moral. Das ist selten geworden in einer Zeit, da die Ausstellung und Darbietung der eigenen Ergriffen- heit normal geworden ist. Eine obszöne Entwicklung. Sie haben gelästert, gefrotzelt und reingelegt. Aber sie haben nicht abgelenkt von Ihrer politischen Aufgabe durch Befehle von oben, die ihre Stimme zu einer wichtigeren erklären sollte als jene von Millionen Mitbürgern. Aus dieser Demut habe ich Ihr Glaubensbekenntnis gelesen.
Als ich mich erst kürzlich an der Nachhaltigkeitsdebatte beteiligte und dabei auf Investitionen, Innovationen und eine grüne Marktwirtschaft setzte statt auf linksdogmatische Verzichtssymbolik, wunderte sich die Politikwissenschaftlerin Ulrike Guérot. Sie verwies auf Matthäus 6/19: „Häuft in dieser Welt keine Reichtümer an.“ Ein Gebot: Du sollst nicht horten. Warum war Verzicht für mich links? War er nicht urchristlich?
Ich habe viele Jahre über das C in CDU nachgedacht. Ich glaube, den eigenen Glauben, etwas, das für mich geheimnisvoll, nicht sagbar, und wahr ist, in eine einfache politische Aussage zu übersetzen, ist unwürdig. Es verzwergt Glaube zu Kampagne. Das gilt auch umgekehrt: Das Ordnungsgeschäft einer vielstimmigen, widersprüchlichen Bedürfniswelt durch einen einfachen Moralismus aufzuheben, sabotiert demokratische Politik. Ich weiß nicht, ob Sie mir zustimmen würden. Aber es ist Ihre Wirkung, dass ich diese Trennlinie für mich überhaupt ziehen konnte.
Zu meinen politischen Anfängen habe ich den eigenen Aktivismus für Politik gehalten. Angenommen, meine Themen und meine Programmatik seien mehr als nur meine subjektive Bedürfniswelt. Politik aber ist nicht die eine Deutungshoheit über das Richtige, das Gute, das Schöne. Wäre es so, Sie hätten im Theologicum und ich im philosophischen Seminar sitzen bleiben können. Aber wir diskutierten in der Bundestagskantine.
Wer Politik macht, um der eigenen Daseinsscham zu entfliehen, als Kompensationsleistung für ein unerfülltes Leben, der ordnet sie der eigenen Person unter, missbraucht ihren Zweck und legt sie lahm.
Sie waren immer Mensch und Politiker. Aber Sie haben die beiden Rollen niemals vermengt, dadurch das eine, das andere oder beides beschädigt. Das hat dem Menschen Hintze und dem Politiker Hintze gleichsam Sinn und Würde verliehen. So erinnere ich an Sie.
Ich bin Christ genug, um Sie wohlauf zu wissen. Und mit Ihnen auch meine junge Mutter, die früh starb, und andere Ratgeber und Freunde, die das Wirrwarr dieser Welt nicht mehr miterleben. Sie hätten es gerne entworren. Geholfen, Land und Partei neu aufzustellen. Als alter, weißer Mann waren Sie von Grund auf modern: Dem Menschen an sich zugewandt. Zugänglich. Freiheitlich.
Sie hätten Tugenden und Milieus, Landesfürsten und Performer, Ausflüchte und Anreize auf einer einzigen Karte aufmalen können. Was bräuchten wir heute einen wie Sie.
Ich bedauere die Toten nicht. Wenn mein Himmel zuzieht, suche ich ihren Beistand. Wenn er wieder aufklart, denke ich, dass die Lebendzeit ausmacht, sich nicht auf den Eingriff der anderen ausruhen zu sollen. Ein Freund sagte mir einmal: „Der Tod der Nächsten ist auch ein Beitrag für unser ganz eigenes Erwachsenwerden.“
Na klar. Sie werden sehr vermisst. Beim Segeln und beim Tischtennis am meisten. Dem Politikermenschen ging ein wahrer Freund. Land und Partei fehlen Ihr scharfer Verstand, Ihr weiter Blick. Ihr Tod war und ist ein Verlust. Aber ihr Leben müht auch das Lebendigsein in unsereins hervor. Eine gute Vergewisserung.
Ihre Diana Kinnert