
Die Zeit nach Corona wird Gesellschaften und Regierungen auf der ganzen Welt Großes abverlangen. Doch es geht nicht nur um die klassische Wiederankurbelung museal gewordener Industriesysteme und als neue Fairness verkleidete Gutscheine an das medizinische Versorgungspersonal. Post-Corona könnte der Startpunkt einer neuen Politik sein. Und sie ist nötig, um nicht nur derzeit erkennbare Defizite zu beseitigen, sondern auch, um in einer wandelbaren Zukunft zu bestehen.
Was als regionale Infektionskrankheit im chinesischen Wuhan begonnen hatte, hat als virale Pandemie das gesellschaftliche Leben auf der ganzen Welt weitgehend lahmgelegt. Sämtliche wirtschaftlichen und sozialen Routinen sind eingestellt, internationale Wertschöpfungsketten drohen zu zerreißen, nationale Notstandsregime greifen massiv in bürgerliche Freiheitsrechte ein. Die Welt erkennt ihr Spiegelbild nicht mehr. Die Sehnsucht nach alter Normalität wächst auch in der Stimmung der Ostertage.
Doch welche alte Normalität ist noch erstrebenswert? Die einer vernachlässigten Umweltschutzpolitik, bei der es durch die Missachtung von Hygienevorkehrungen beispielsweise beim Wildtierverzehr oder in der Massentierhaltung zu Infektionen im zoologischen Feld kommt? Jene einer gescheiterten Klimaschutzpolitik, die vor allem küstennahe Regionen Umweltkatastrophen aussetzt, die wiederum einfachste Infrastruktur für die humanitäre Versorgung wie den Zugang zu Elektrizität und Trinkwasser zerschlagen und somit die Ausbreitung gefährlicher Keime begünstigt? Der Schutz des Klimas, unserer Ökosysteme und ihrer Biodiversität stand lange nicht auf der Agenda der Regierenden. Heute zeigt sich: Nachhaltigkeit verdient Priorisierung – für ihren Beitrag für eine Zukunft der Sauberkeit, Gesundheit und Sicherheit, ja überhaupt der humanitären Verantwortung.
Ähnlich ist es auch in anderen Politikfeldern. Strukturkonservatismus, Risikoscheu und Nostalgie lassen uns das Bekannte zur idealen Norm erheben, dabei tragen sie nicht selten dazu bei, auf den Ungehorsam der Zukunft nicht ausreichend vorbereitet zu sein. Weil das Bildungssystem unterdigitalisiert ist, eine flächendeckende flexible Kinderbetreuung fehlt und Arbeitgeber moderne Arbeitsformen ohne analoge Präsenzkultur noch immer vernachlässigen, trifft der wirtschaftliche Einbruch durch Corona den deutschen Mittelstand härter, als er müsste. Zurück zur Normalität darf nicht bedeuten: Zurück zu den Defiziten.
Die prekären Beschäftigungsbedingungen, gerade unter den sogenannten systemrelevanten Berufen, haben neues Benzin ins Diskursfeuer über soziale Ungleichheit, Leistungsgerechtigkeit und gesellschaftlichen Aufstieg gegossen. Das ist gut so, darf aber nicht in einer Alibipolitik einmaliger Geldgeschenke aufgehen. Deutschland braucht eine soziale, gesundheitliche und medizinische Infrastruktur auf der Höhe der Zeit. Es bedarf einer radikalen Neuaufstellung. Und das nicht nur aufgrund sich global ausweitender Infektionskrankheiten oder neuer datengestützter Forschungsmöglichkeiten, sondern schlicht und ergreifend aufgrund des demographischen Wandels.
Kaum ein Industrieland auf der Welt wird die Alterung seiner Gesellschaft so sehr herausfordern wie Deutschland. Die steigende Lebenserwartung und niedrige Geburtenrate stellen die Architektur des deutschen Wohlfahrtsstaats auf den Kopf. Agile Infrastrukturen, bedürfnisgerechte Mobilität und digitale Bildung sind gefragt. Die Alten sind mal vital, mal pflegebedürftig, auch mal im Wechsel. Nur wer diese Wechselhaftigkeit des Lebens auch auf seinen Politikansatz überträgt, kann den Windungen und Wendungen der Zukunft guten Gewissens entgegengehen.
Es mag im ersten Moment frivol anmuten, angesichts des Elends und der Toten Corona auch als Chance begreifen zu wollen. Die Welt hat lange keine Disruption mehr erlebt wie die Pandemie und ihre Folgen dieser Tage. Der Entfernung aus dem Routinierten wohnt auch, Hermann Hesses berühmtem Aphorismus folgend, der Zauber anderer Blickwinkel und damit neuer Anfänge inne. Das Schicksal der Autoimmunkranken und älteren Menschen, die für viele ungeahnte Situation sozialer Isoliertheit, der Kraftakt der Fürsorgearbeit, ob für Kinder im Betreuungsalter oder Angehörige im Pflegestadium, die Gefahrenlage durch Gewalt im Häuslichen, der Ruf nach psychosozialer Behandlung ist in der Politik in den vergangen Jahren wenig diskutiert worden. Es wäre schön, wenn sich wenigstens das änderte.
Der Kommentar erschien im April 2020 im Hauptstadtbrief der Berliner Morgenpost und online: http://www.derhauptstadtbrief.de/cms/aktuelle-ausgabe/121-archiv-am-sonntag-einzelbeitraege/1703-kein-zurueck-zur-normalitaet