
Kommunale Posten bleiben zunehmend unbesetzt, die Parteien ächzen unter Überalterung und Mitgliederschwund. Welche Reformen in Staat und Partei sind vonnöten? Und was passiert, wenn Reformen ausbleiben? Schafft sich der Staat selbst ab? Über diese Fragen habe ich mit Gonne Garling und Winfried Pastors von BILD gesprochen.
(Intro) „Wie sieht unsere Zukunft eigentlich aus zwischen der Dominanz der Finanzindustrie und dem Verlust der Handlungshoheit demokratisch legitimierter Politik? Inmitten der Krise der europäischen Idee, die Gräben quer durch den Kontinent zu reißen droht?“ Diese Fragen für morgen hat Diana Kinnert schon gestern gestellt, vor fünf Jahren exakt. Sie war gerade 22 Jahre alt, als sie mit zehn weiteren jungen Leuten ein „Manifest“ verfasste. Seitdem schrieb sie am Zukunftsprogramm der CDU mit.
BILD: In Ihrem Buch schreiben Sie, dass Sie dem „echten Leben“ in der Wuppertaler Schwebebahn begegnet sind …
Diana Kinnert: Das Schöne an der Schwebebahn ist , dass man einen Blick von oben auf eine Situation hat. Ich habe in eine Fabrik hineingesehen, mit undichtem Dach und zerschlagenen Fenstern, und mich gefragt: Warum arbeitet da niemand mehr? Dass vor der Wuppertaler Tafel dutzende ältere Menschen Schlange standen, hat mich erschreckt. Aus der Schwebebahn habe ich Großfamilien beim Grillen in Parks entdeckt. Als ich meine Eltern fragte, warum wir nicht auch einmal im Park grillen, antworteten sie: „Wir haben einen Garten.“ All diese Eindrücke mündeten in politische Fragestellungen, die sich mir bereits als Kind einbrannten. Im Jugendalter bin ich dann politisch aktiv geworden. Politik ist für mich die faire Ordnung von Verschiedenheit.
BILD: Auch andere Jugendliche interessieren sich für Politik, aber sie haben keine Lust auf eine Partei.
Kinnert: Das ist verständlich und betrifft nicht nur junge Leute. Wenn Parteisitzungen um 16 Uhr stattfinden, haben die meisten keine Zeit, weil sie arbeiten müssen. Oder wenn man fünf Jahre Anwesenheitspflicht voraussetzt, um einen kommunalen Posten zu ergattern, funktioniert das für die junge, mobile Generation ebenso nicht. Da muss man sich nicht wundern, dass Parteien nicht die Gesellschaft abbilden. Wir brauchen Quereinsteiger in der Politik, die auch einen mutigen und innovativen Blick auf die Arbeitsweise unseres Staates selbst nicht scheuen.
BILD: Schafft sich der Staat sonst selber ab?
Kinnert: Wenn er sich nicht selbst reformiert, – ja! Die Strukturen in der Bundesrepublik Deutschland sind jetzt 70 Jahre alt. Sie waren sehr erfolgreich, deshalb will man nichts daran ändern. Dabei sind mit und in einer sich verändernden Gesellschaft zahlreiche neue Herausforderungen entstanden: In Großbritannien wurde kürzlich eine Staatsministerin für Anti-Einsamkeit einberufen.
Die Einsamkeit im Alter hat drastische politische Auswirkungen: Krankheiten nehmen zu, die Gesundheitskosten steigen. Gleichzeitig gehen Solidarität und Empathie zurück, Misstrauen und Angst machen sich breit, ein Nährboden für populistische Politik. Auch Deutschland braucht eine Anti-Einsamkeits-Offensive.
BILD: Ist das in der Wirtschaft anders?
Kinnert: Ein bisschen, ja. Anders als unter Staatsapparaten und Parteien ist der Wettbewerb in der Wirtschaft sehr viel härter und direkter. Die Offenheit für Kreativität und Erfindungsreichtum drückt sich im Erfolg des Begriffs Innovation aus. Die Not für neue Ideen ist in der Wirtschaft so groß geworden, dass man sogar auf die spielerische Herangehensweise von Kindern setzt. Bei einem Schulprojekt kamen Schüler auf die Idee, das bei Regen herablaufende Wasser von Autoscheiben aufzufangen und später zum Reinigen der Scheiben zu nutzen. Eine großartige Idee, die es sofort in die Innovationsstätten der Automobilunternehmen geschafft hat.
BILD: Wie kann der Strukturwandel gelingen?
Kinnert: Wir müssen von dem ausgehen und zu unserem Vorteil nutzen, was vorhanden ist. Die Volkswirtschaft der Bundesrepublik steht für Qualität und Sorgfalt, unsere Produkte werden weltweit verkauft. Diese Stärke in der Produktqualität sollten wir ausnutzen – und weiter optimieren.
Mit Datensätzen und künstlicher Intelligenz können wir unsere Autoreifen so weiterentwickeln, dass sie unser Fahrverhalten analysieren und Risiken frühzeitig erkennen. Neue Zahnbürsten könnten Krankheitsbakterien im Speichel erkennen, bevor sich eine Karies überhaupt niedergesetzt hat. Ausländische Wettbewerber haben schlechtere Basisprodukte. Mit datenbasierter Produktoptimierung kann „Made in Germany“ kann noch besser werden.
BILD: Aber reicht das, um abertausende Industriearbeitsplätze zu ersetzen, die allein in NRW durch den Strukturwandel gefährdet sind?
Kinnert: Natürlich braucht jeder Strukturwandel eine unterstützende politische Rahmung. Das Münsterland braucht den Soli West so wenig wie Leipzig den Soli Ost. Das sieht im Ruhrgebiet schon anders aus. Dafür gibt es dort eine breite Hochschullandschaft von Technik bis Geisteswissenschaft. Würde man von Aachen bis Essen besser vernetzt, wäre man so leistungsfähig wie das Silicon Valley.
Gemeinsam mit den Handelskammern müsste man sich Gedanken machen über Berufsbilder der Zukunft: Braucht man beispielsweise Lotsen für selbstfahrende Autos?
Dazu kommt das Thema Weiterbildung. Muss ein Bäcker immer Bäcker bleiben? Ist das Konzept von müder Lohnarbeit ein erstrebenswertes Gesellschaftskonzept von Partizipation? Lebenslanges Lernen muss selbstverständlich werden.
BILD: Sind andere Länder beweglicher als wir?
Kinnert: Ja. In Weißrussland habe ich überall WLAN. Woran liegt das? Wir haben unsere Kabel schon vor Jahrzehnten gezogen, andere Länder erst vor ein paar Jahren. Kein Wunder, dass die dann besser sind. Ich nenne das: Das Schicksal des Privilegs. Daran sieht man aber, dass Zusammenbruch auch eine Chance sein kann. Wenn ganze Industrieareale im Ruhrgebiet untergehen, entstehen großartige Chancen, dort etwas Neues aufzubauen. Krisen bringen etwas: Sie schaffen Platz.
BILD: Wo sehen Sie Ihre eigene Zukunft?
Kinnert: Auf der unternehmerischen Seite. Ich bin an einigen Start-ups beteiligt, die vor allen Dingen neue nachhaltige Produkte entwickeln. Da geht es um datenbasierte und personalisierte Gesundheitsartikel, um Recycling-Technologien, solche Dinge. Ich werde mich immer für Politik interessieren, aber im Parlament sehe ich mich zur Zeit nicht. Es ist auch wichtig, Impulse von außen geben zu dürfen.
Das Interview erschien am 1. Dezember 2018 in einer Sonderbeilage der BILD. Online abrufbar hier: http://www.bild.de/regional/duesseldorf/duesseldorf-regional-politik-und-wirtschaft/diana-kinnert-27-cdu-wir-brauchen-einen-einsamkeits-minister-58719430.bild.html