
Die anderen waren früher dran: Schon 2017 war Leo Varadkar, Sohn eines eingewanderten Hindus, mit nur 38 Jahren zum Regierungschef Irlands gewählt worden. Jüri Ratas hatte 2016 39 Jahre gezählt, als der Vorreiter in Sachen Digitalisierung zum Premierminister Estlands vereidigt wurde. Und 2015 hatte Kanada den charismatischen Justin Trudeau zum Regierungschef gewählt, der sich seitdem mit progressiver Identitätspolitik und liberaler Einwanderungspolitik einen Namen in der Welt mache.
Auf unserem Kontinent war unterdessen der französische Staatspräsident Emmanuel Macron, heute 40 Jahre alt, um Frankreichs Führungsrolle in einer neu gedachten Europäischen Union bemüht. Und in Neuseeland hatte die 2017 gewählte Premierministerin Jacinda Ardern, 37 Jahre alt, über das öffentliche Rumoren hinwegregiert, eine Frau könne doch nicht regieren und schwanger sein. Konnte sie nämlich doch.
Zur gleichen Zeit war Deutschland wie bewegungsunfähig. Die 63-jährige Angela Merkel, der 68-jährige Horst Seehofer und der 62-jährige Martin Schulz fabulierten mit müden Gesichtern von „Aufbruch“ und „Erneuerung“, und zählten doch zusammen beinahe 200 Lebensjahre. Merkels vorangegangenes Kabinett maß ein Durchschnittsalter von 59 Jahren und war damit rund 15 Jahre älter als die Bevölkerung, die es vertrat. Im letztjährig gewählten Bundestag waren nur zwölf der 709 Abgeordneten jünger als 30 Jahre. Laut einer Umfrage des Meinungsforschungsinstituts Ciney fühlten sich mehr als 80 Prozent der 18- bis 29-Jährigen nicht ausreichend repräsentiert. Aber das war einmal. Wenn ich mir etwas wünschen dürfte, hätte sich genau das geändert.
Statt gestrigen Themen und folkloristischen Debatten, die Angst schüren und Feindbilder hochjazzen, kämpfte eine zukunftsgewandte und moderne Bundesrepublik in neuartigen internationalen Allianzen gegen die globale Klimakatastrophe. Eine generationengerechte Rentenreform mit Blick auf die demographische Entwicklung würde neu festgeschrieben, statt ein veraltetes Modell der Dysfunktionen weiter künstlich zu beatmen. Anders als noch im Bundestagswahlkampf 2017 würde über Moral und Maschinen, Technologie und Digitalisierung gestritten, statt neue Debatte auf das Jahr 2025 zu vertagen. In dem Deutschland, das ich mir wünsche, würde endlich Zukunft gestaltet, statt Vergangenheit verwaltet.
Eine neue Generation würde politisch stärker eingebunden, ihre Lust auf Zukunft als demokratisches Benzin verstanden. Das jahrzehntelang unangetastete politische Mindset einer stringenten Links-Rechts-Achse würde aus den Angeln gehoben. Stattdessen mischten sich aufstrebende Generationen in wechselnde politische Allianzen und krochen endlich heraus aus alten Schützengräben.
Die Jungen designten die Parteien von morgen neu: Digitale Partizipationsformen, durch die Argumente gesammelt, sortiert und periodisiert werden können. Videokonferenzen mit den Parteikollegen im Auslandssemester am anderen Ende der Welt. Zielgruppenangepasste Engagementeangebote für die Fließbandarbeiterin im Schichtbetrieb und den alleinerziehenden Vater von drei Kindern. „I want a dyke for president“, rief die US-amerikanische Feministin Zoe Leonard 1992 aus – und in der Tat: Im Parlament 2.0 säßen Schulabbrecher, HIV-Kranke und Urgroßmütter neben Juristinnen, Lehrerinnen und Betriebswirtinnen. Die moderne Bundesrepublik hätte verstanden: Nur Verschiedenheit schafft Gerechtigkeit und Fairness in der Ordnung eines Miteinander von Verschiedenen.
Während sich die Welt immer weiter drehte, immer ungehorsamer und richtungsunentschiedener, wir alle mit Umgebungswechseln jeder Art konfrontiert sind, war die Organisation von Politik doch immer gleich geblieben. Ein junges Parlament drehte das auf den Kopf: Wir arbeiteten mit Zukunfts-, Glücks- und Toleranzministern zusammen und wehrten uns gegen die institutionalisierten Unbeweglichkeiten und Ineffizienzen etablierter Staatsapparate. In neu installierten Innovationslaboren und interdisziplinären Teams, die zwischen verschiedensten neuen Ministerien angesiedelt würden, wären Gäste aus dem Ausland nicht nur Gäste, sondern bereichernder Teil globalisierter Staatspolitik. Gremienarbeit im lichtverschlossenen Büroraum würde ergänzt durch angeregtes Lustwandeln durch grüne Städte. Und jedes Gremium stünde im Wettstreit gegen die eigene Haltbarkeit: Ein Fortgang der Kommissionsarbeit müsste ein jedes Mal politisch neu bewilligt werden, dass sich Verkrustungen gar nicht erst niedersetzten. Reformen bräuchten damit keine mutige Reforminitiative. Der Reformmotor würde von Beginn an miteingebaut.
Als Generationen, die in einem geeinten, friedlichen Europa aufgewachsen sind, mit offenen Grenzen, einer gemeinsamen Währung und dem Erasmus-Programm, war Europa für uns sowohl zur Heimat als auch zum Sehnsuchtsort geworden. Wir engagieren uns dafür, dass wir endlich auch als Europäer wählen: Mit einem Stimmrecht für transnationale Wahllisten. Wir stellten die Architektur der Europäischen Union infrage, suchten nach Umstellungen für ein partizipativeres, beweglicheres Europa, eines, das von allen europäischen Staaten gewollt werden würde, weil es ein profitables Kooperationsmodell statt eine vergemeinschaftliche Fusionsunion darstellte.
Die Bildung, die uns in der Schule vermittelt würde, verabschiedete sich vom banalen Lexikonwissen. Unsere Schulpolitik setzte auf Aristoteles und Algorithmus, verband Natur und Kultur miteinander. Zoologie und Fauna würde den Schülern durch Projektarbeiten unter freiem Himmel nahegebracht; technische Fähigkeiten spielerisch bei Hackathons vermittelt. Teilnehmer des diesjährigen Weltwirtschaftsgipfels in Davos benannten komplexe Problemlösung, kritisches Denken und Kreativität als die drei wichtigsten Kompetenzen, auf die es im Jahr 2020 angekommen wird. Wir hätten uns diese Einschätzung zur Brust genommen: Eine Bildungspolitik, die aus Schülern Fantasten machte, war nicht nur ein entscheidender Wirtschaftsvorteil; sie brachte auch mündige, selbstdenkende Bürger hervor.
Wir bauten neue Debatten. Während sich in unserer immens technologisierten Umwelt immer mehr Blockchain-Applikationen den Weg bahnten und etablierte Tauschgeschäftsstrukturen herausforderten, diskutierte die Kirche über die Frage, ob gedruckte Organe als noch lebenserhaltend oder schon lebensverlängernd galten. Jahrzehnte nach Beginn der technologisch-digitalen Revolution war eine flächendeckend ausgebaute digitale Infrastruktur und die Anerkennung des Internetzugangs als Bestandteil der Grundversorgung endlich durchgesetzt worden. Diskussionen über Maschinen und Moral, die ersten Prämissen der Pflegeroboter, die Grenzen der künstlichen Intelligenz, die Besteuerung von Datensätzen – all das spielte sich nicht mehr nur in Science Fiction ab, ändern spiegelte gesellschaftlichen Diskurs in unseren non-linearen Staatsmedien.
Für unsere Eltern war der Weg von der Schule über Ausbildung und Arbeit bis zur Rente oft vorgezeichnet gewesen. Unsere Sozialsysteme waren jahrzehntelang auf derartige Lebenswege ausgerichtet. Aber unsere Realität sah längst schon anders aus. Wir waren permanent mit Brüchen im Erwerbsleben konfrontiert, ob selbst gewählt oder unfreiwillig. Wir setzten uns für eine Sozialpolitik ein, die individuelle Lebensläufe von Familiengründung, Weiterbildung oder Selbstständigkeit unterstützte. Ideen eines Grundeinkommens oder Bürgergeldes würden nicht mehr nur auf Papier diskutiert, sondern endlich auch in Pilotprojekten getestet.
Aber wir wollten noch mehr: Eine neue junge Bundesrepublik stimmte für ein bedingungsloses Recht auf Fortbildung. Jedem Menschen stünden seitdem im Laufe seines Lebens mehrere Monate einer bezahlten Fortbildung zu, ohne komplizierte Beantragung beim Arbeitgeber oder Staat. Politik befähigte, statt mit Existenzsorgen und Sanktionen zu lähmen. Und dabei dachten wir nicht an uns Junge: Wenn es uns gelänge, eine ausdifferenzierte Berufswelt flexibel zu strukturieren, würden auch Menschen während ihres Lebensabends eine ganz neue gesellschaftliche Wertschätzung erfahren – zum Beispiel durch ein freiwilliges soziales Jahr für Senioren oder Initiativen nach dem Vorbild britischer Anti-Einsamkeitspolitik.
Wenn ich mir etwas wünschen dürfte, wären wir endlich wieder irritiert. Irritiert ob einer demokratischen Kultur des lebendigen Streits neuer Ideen, – denn so etwas hatten wir lange nicht mehr erlebt.
Dieser Textbeitrag erschien ebenfalls in „Wenn ich mir etwas wünschen dürfte. Impulse für eine Demokratie der Moderne“, herausgegeben von Checkpoint: Demokratie e. V., Schüren Verlag, 2018: „Lasst uns reden! So offen, so schonungslos und so radikal, wie es uns drängt. In den Büros und Clubs, auf den Straßen und Podien, überall dort, wo Gespräche möglich sind. Aber lasst dabei das Verbindende unser Ziel sein – und die Stärkung der Demokratie. Lasst uns reden darüber, was wir gemeinsam ändern müssen und wie wir die Demokratie stärken können.“ -Renan Demirkan. Ein Buch mit Beiträgen von Michel Friedmann, Silke Burmeister, Sieb El Masrar, Antonia Rados, Gesine Schwan, Ahmet Toprak, Frank Stauss, Franziska Augstein, Ralf Liebe, Guido Maria Kretschmer, Christian Kipper, Mirna Funk, Philipp Lahm, Harald Christ, Gert Heidenreich, Christoph Bornschein und anderen. Hier zu erwerben: http://www.schueren-verlag.de/programm/titel/591–wenn-ich-mir-was-wuenschen-duerfte-impulse-fuer-eine-demokratie-der-moderne.html